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Die Interpretation von Satire

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Ich hatte einen ganz anderen Beitrag im Kopf, den ich wohl nie abgeschickt hätte, er war zu persönlich. Dann trendete auf Twitter auf einmal wieder der #CharlieHebdo-Hashtag. Als ich sah, was es damit auf sich hatte – und wie die Empöreria wieder einmal darauf abging, wollte ich dann doch etwas schreiben.

Ich werde den Cartoon nicht verlinken, ihr seid schon groß und werdet ihn selbst finden. Ich werde ihn beschreiben. Es geht um den ertrunkenen Jungen Aylan Kurdi. Ein syrischer Flüchtling, dessen Leiche fotografiert wurde. Das Bild ging um die Welt. Es war erschütternd, es war traurig und es teilte die Welt. Darf man so etwas zeigen? Bilder des Schreckens? Ist es nicht pietätslos?

Das Bild wirkte auf mich unglaublich ruhig und unsagbar traurig. Hätte ich die Wahl gehabt, ich hätte es mir nicht angeschaut. Mir reicht es, davon zu lesen. Meine Vorstellungskraft ist tausendmal heftiger. In ihr zieht sich meine Lunge im Kampf um Sauerstoff zusammen. In ihr greife ich selbst panisch nach Wrackteilen. Ihr ihr spüre ich die Todesangst der Flüchtlinge.

Aber in dem Foto ist das alles vorbei. Aylan ist tot. Sein Leben hat geendet, noch bevor es richtig beginnen konnte. Er liegt unverkrampft da. Den Kopf leicht schräg im Sand. Läge er nicht in den Wellen, man könnte meinen er würde nur schlafen. Ein Kleinkind, was nach dem Toben einfach irgendwo in eingeschlafen ist.

Charlie Hebdo – die vor Januar wohl kaum jemand in Deutschland kannte – hat das Bild von Aylan aufgegriffen. Es ist eine einfache Zeichnung, ohne Schattierung mit weichen Linien. „So kurz vor dem Ziel“ steht darüber.

Im Hintergrund steht ein Werbeschild von McDonalds*. „Zwei Kindermenus zum Preis von einem“ verkündet der lachende Clown. Das Gesicht von Aylan ist vom Werbeschild abgewandt. Eher zeigt es zum Betrachter, ist aber größtenteils im Sand versteckt. Der Clown aber schaut fast auf das Kind, aber gerade so vorbei.

Wer in diesem Bild Häme sieht, der hat Satire nicht verstanden. Ich sehe Schmerz darin. Und Anklage. Es ist eine große Symbolik und zwar eine, die mich ansprach.

Aylan starb auf der Flucht in die Freiheit der westlichen Welt. Diese werden symbolisiert vom Aushängeschild des Kapitalismus, der Werbung, die uns dazu bringen soll immer mehr zu konsumieren und immer bessere, tollere Dinge zu haben. Aber ob wir es war haben wollen oder nicht – die grenzenlose Gier nach Geld und Wachstum ist an den Kriegen im mittleren Osten nicht unschuldig ist. Charlie Hebdo greift eine Werbung für etwas auf, was den Überfluss unserer westlichen Kultur symbolisiert: Fast Food. Fast Food im Überfluss, denn es gibt ja Zwei für Eins.

Der Überfluss der westlichen Länder hat uns abhängig gemacht von Konsum, vom Erlangen von Wohlstand. Immer mehr Kinder leiden an Übergewicht. In Amerika haben Kinder mittlerweile eine geringere Lebenserwartung als ihre Eltern, weil das Übergewicht und die Folgekrankheiten so stark ansteigen. Wir haben Convenience Produkte, die dafür sorgen, dass wir uns kaum noch bewegen müssen. Telefon und Internet verbinden uns mit der Welt, ohne dass wir einen Schritt tun müssen. Unsere Jobs sind stationäre Bürotätigkeiten geworden und wir müssen uns zur Bewegung aufraffen. Dabei ist der Bewegungsdrang etwas natürliches und angeborenes. Wir haben ihn unterdrückt. Wir haben diese Annehmlichkeiten des Bewegungsverlustes, des schnellen Essens, der schnellen Bedürfnisbefriedigung „Wohlstand“ genannt. Wir finden ihn richtig. Und doch wollen wir nicht, dass jemand ihn mit uns teilt.

Aylan wusste wahrscheinlich nicht viel über Kapitalismus oder über unser Konsumverhalten. Er war ein ganz normaler Junge, der sicher gerne gespielt hat. Wahrscheinlich hat er nicht viel von dem verstanden was geschah. Aber er wird Angst gehabt haben. Er wird nach seinen Eltern gerufen haben, als das Schiff sank. Er wird in den kalten Wellen, in der Dunkelheit der Nacht den unsäglichen Horror der Todesangst durchgemacht haben.

Nein, den westlichen Wohlstand, den das Bild symbolisiert – ihn suchte Aylan nicht.

Er wollte nur leben.

 

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iStock / Jacartoon; Spektrum der Wissenschaft

 

 

 

 

 

*McDonalds hat heute übrigens Sprachkurse für Flüchtlinge gespendet.

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Source: 1ife5cience


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